Stil-Mus. Streng? Locker!
Tradition oder Geometrie bei der Baumform


von Michael Exner

Auf das gesammelte Wissen scheint man bauen zu können und viele Aspekte von Pflege und Gestaltung unserer Bonsai sind fester Boden. Schaut man sich aber bestimmte Selbstverständlichkeiten an, kann man doch manchmal stutzig werden. Mir ist es mit den sogenannten Bonsai-Stilen so gegangen.

Sie wissen was ich meine: streng aufrecht, locker aufrecht usw. Ob das nun Stile sind oder Formen, darüber kann man diskutieren, jedoch scheinen die abstrakten Modelle spezieller Bonsaiformen nicht auf gleicher Ebene zu liegen. Einmal ist z.B. die Stammform (streng aufrecht) stilbildend, ein andermal das, was den Baum formt (windgepeitscht), oder es ist ein besonders markantes Detail (verbundene Wurzeln) oder eine Analogie (Besen) für den Stil namengebend. Ein verwirrendes System, bei dem unklar ist, wie man einen Bonsai zuordnet. Das kann man auch positiv sehen, denn so bleibt das System – ungewollt – offen für freie Deutungen.
Das hat historische Gründe. Eigentlich gibt es traditionell nur eine Form, die der Kiefer, die an der stilisierten Kiefer der Noh-Bühne orientiert ist: geschwungener Stamm, in den Kurven ansetzende Äste, die Etagen bilden. Eigentlich keine natürliche Kiefer, sondern ein Symbol für verschiedene gute Eigenschaften. Als nun Japan und damit auch Bonsai sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts modernisierten, das Bonsai-Business mit seinen Profis und öffentlichen Ausstellungen entstand, kamen neue Baumarten und neue Formen zum traditionellen Kanon. Es gab z.B. eine Mädchenkiefer mit mehreren Stämmen, deren Wurzeln miteinander verbunden waren. Als die ausgestellt wurde, wurde sie ein anerkanntes Vorbild und begründete den Stil: verbundene Wurzeln. So kamen quasi organisch, über spezielle Bonsai, neue Stile dazu, die durch Abstraktion zum Stil wurden. Als dann das traditionelle Meister-Schüler-Lernen nicht reichte und Bücher geschrieben wurden, war auf einmal ein Kanon der Baumformen da.
Eingewurzelte Systeme lassen sich, wie wir alle wissen, nicht leicht verändern, geschweige denn ersetzen. Trotzdem möchte ich hier einen Vorschlag machen, die Bilder der Stile durch drei Kriterien zu ergänzen, die sich an Form, Neigung und Anzahl der Stämme orientieren.

Die Stammform: Ist der Stamm geschwungen oder gerade?

Die Stammneigung von der Vertikalen: In welchem Winkel – bis zu 180° – neigt sich der Stamm?

Die Stammzahl: Wie viele Stämme sind vorhanden?

Drei geschwungene Stämme, 90°, würden in der alten Formulierung eine mehrstämmige Halbkaskade kennzeichnen. Wären es 45°, könnte man von einer Vater/Mutter/Kind-Komposition ausgehen. Details, die eine Differenzierung z.B. von Floßform und verbundene Wurzelform als Stile festschrieben, wären nun untergeordnet. Sicher sind auch bei diesem Vorschlag die Übergänge problematisch und es lässt sich trefflich darüber streiten, ob ein spezieller Baum eher gerade oder geschwungen ist. Da aber jeder Bonsai ein Individuum ist, wird man dieses Problem nicht allgemein lösen. Vielleicht wäre eine solche Sprachregelung aber praktikabel und hilfreich für eine bessere Orientierung im Stil-Dschungel. Die Zukunft wird es zeigen.

Gerader Stamm, 0° NeigungGeschwungener Stamm, 0° NeigungGeschwungener Stamm, 25° NeigungGeschwungener Stamm, 140° NeigungGeschwungener Stamm, 155° Neigung

Dieser Artikel erschien in der {ln:BONSAI ART 121 'BONSAI ART 121}