Kreativität statt Corona-Langeweile

Bonsai-Profi Christian Przybylski wirft einen Blick in das Erbstück eines Freundes und rät zur Kreativität bei der Werkzeugauswahl.

Dem Opa seine Kiste - Christian Przybilski

Dem Opa seine Kiste? Nun ja, eigentlich gehört die nicht mehr dem Opa, sondern ist ein Erbstück.

Momentaner Besitzer ist ein Schüler und wirklich guter Kumpel von mir. Besagter Kumpel, nennen wir ihn mal V., stammt übrigens aus der gleichen Gegend wie ich und so pflegen wir, obwohl er ehemaliger Grundschullehrer ist, unseren grammatikalisch fragwürdigen „Ruhrpottslang“. Und hier sagt man eben: „Dem Opa seine Kiste.“ 

V. ist bei allen seinen Klassenkameraden wegen seiner Charaktereigenschaften (herzlich und hilfsbereit) aber auch wegen seiner Werkzeugkiste und ihrem unfassbar umfangreichen Inhalt sehr beliebt. Schon die Kiste selbst hat eine überwältigende Ausstrahlung von Würde und Alter, reifender Vergänglichkeit … all das, was die Japaner „Wabi Sabi“ nennen. Neben der würdevollen Außenhülle ist aber vor allem ihr Innenleben höchst interessant und birgt so manche Überraschung für den Bonsai-Freund.

Dem Opa seine Kiste - Christian Przybilski

Aber machen wir die Kiste doch mal auf … nicht besonders ordentlich. „Wie inne Rumpelskammer“, würde unser Oma sagen. Versuchen wir also, ein wenig Übersicht in die Rumpelskammer zu bringen.

Dem Opa seine Kiste - Christian Przybilski

 

Auffällig ist sicher der Strohhalm (A). Wozu braucht der Bonsai-Liebhaber einen Strohhalm? Man könnte vermuten für den Caipirinha nach oder noch während der Arbeit. Falsch vermutet. Der Strohhalm eignet sich hervorragend zum Ausblasen schwer zugänglicher Stellen am Bonsai, an denen diverse lockere Verschmutzungen haften. Besonders zu erwähnen seien hier Schleifstaub oder Holzspäne von der Totholzbearbeitung. 

Diverse Zangen aus der Heim- und Handwerkersparte kennt sicher jeder. Oftmals unterschätzt aber dennoch sehr wirksam und von hoher Qualität im Verhältnis zu einemgeringem Preis, verglichen mit speziellem Bonsai-Werkzeug.

Besonders zu erwähnen sind hier Seitenschneider, Spitzzangen in diversen Formen und (leider hier nicht abgebildet) ein Einhandbolzenschneider. Einhandbolzenschneider? Richtig. Nicht häufig zu finden, dennoch enorm wirksam zum Schneiden dickster Aluminiumdrähte. Selbst Kupferdrähte bis 4 mm lassen sich damit auch von schwächeren Händen abtrennen.

Er ersetzt den unverschämt teuren großen Drahtschneider der Firma Masakuni, dessen Anschaffung sich wohl nur für den Profi lohnt. Was gibt es sonst noch zu sehen? Zahnarztwerkzeug, diverse Kratzer, spitze „Pieksdinger“ (C), die meisten aus unveredeltem Werkzeugstahl. Nutzbar für allerhand Arbeiten, wie Auskratzen von schon weich gewordenem Holz an Totholzpartien sowie dem Vertiefen von vorhandenen Faserstrukturen an Selbigen. Nicht zuletzt dienen die „Piekser“ der Eliminierung von ungebetenen Gästen in Ritzen und Löchern unserer Lieblinge. Die ursprüngliche Nutzung dieser Werkzeuge, konnte bis heute nicht geklärt werden.

Das nächste Mysterium sind sicher die verschiedenen Stücke Rolladenband (E). Wofür sind die denn nu? Rolladenbandist vielseitig verwendbar. Es ersetzt den beliebten Raffiabast, sowie diverse Gummistücke zum Abspannen von Drähten und dient der Vermeidung von Drahtabdrücken. Nicht zuletzt lassen sich, wie auf der Abbildung sichtbar, verschiedene Einsteckschlaufen fertigen. Diese können helfen, Unordnung in der Werkzeugkiste zu verhindern. Im abgebildeten Beispiel ist das Ergebnis, mit Verlaub gesagt, allerdings suboptimal.

Weiterhin sehen wir einen sogenannten Lochstecher (F). Ein beliebtes Tool aus vergangenen Zeiten, sprich aus Opas Werkzeugkeller. Zu was ist der Nutze? Wie schon der Name sagt: Zum Löcher stechen. Wofür nutzt man das beim Bonsai-Hobby? Schrauben (übrigens auch Inhalt der Kiste) zum Fixieren von Drähten braucht man immer mal. Ist kein Akkuschrauber zur Hand, kann es eine große Hilfe sein, ein kleines Loch dort in den Bonsai zu stechen, wo man die Schraube hineindrehen will.

Nicht alles kann man jedoch zweckentfremden. Deshalbfinden sich auch jede Menge bekannte Bonsai-Werkzeuge in Opa seine Kiste. Aber es gibt doch noch etwas Außergewöhnliches. 

Beispielsweise die schmale Konkavzange (D) mit dem langen Hals. Beim ersten Hinsehen haben sicher viele von Ihnen, liebe Leser, gedacht: „Kenn ich doch, gibt es doch fast überall zu kaufen.“ Weit gefehlt. Schauen Sie bitte noch einmalgenau hin. Die hier abgebildete Zange hat einen extrem langen Hals und ist mit ca. 250 mm Länge etwas Besonderes. Sehr praktisch bei Arbeiten an Laubbäumen mit fortgeschrittener Verzweigung und feinem Astwerk. Habe ich in den letzten zehn Jahren nicht mehr in Europa im Verkauf gesehen. Ich will damit nicht sagen, dass es diese Art Zangen nicht mehr gibt. Gefunden habe ich sie jedoch nur noch an einem Verkaufsstand auf der Taikan-ten in Kyoto. Leider zu einem fast utopischen Preis.

Viele Werkzeuge aus der Kiste von V. haben nicht nur andere Vorbesitzer, sondern sind auch umgebaut. Dazu gehört die Schere mit der gebogenen Spitze (B). Ein sehr bekannter oberfränkischer Werkzeugbauermeister, dessen Schaffen auch schon einmal in der BONSAI ART dokumentiert wurde, hat diese Schere so repariert und umgebaut, nachdem ihre ursprüngliche Spitze abgebrochen war. Wozu gebogen? Das erschloss sich mir auf den ersten Blick auch nicht so richtig. V. gab auf Nachfrage zu Protokoll, dies sei seine „absolute Lieblingsschere für Blatt- und Zweigschnitt bei engster Verzweigung und für inne Ecke“.

Auch erwähnenswert ist der abgebildete Holzspatel (H), der mir ebenfalls zunächst ein Rätsel aufgab. Ich schließe aber aus, dass er zum Herunterdrücken der Zunge benutzt wird, um die Mandeln und den hinteren Rachenraum des Bonsai-Freundes medizinisch zu begutachten. Wie gesagt, V. ist Lehrer a. D und kein HNO-Arzt. Auf Nachfrage bekam ich von ihm die Antwort, er benutze dieses Gerät zum Verteilen von Vaseline oder flüssiger Wundverschlussmittel.

In dem Opa seine Kiste gibt es noch so allerhand „was man immer mal gebrauchen kann“. Neben den Kabelbindern, die universell einsetzbar sind, finden sich Klebeband, diverse Klebstoffe auf ein- oder zweikomponentiger Basis, Bleistifte, Zollstock (oder auch Holzgliedermaßstab, wie die Fachwelt sagt) … lauter Gerätschaften, deren Gebrauch wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. Diverse Arten von Bürsten, wie sie wohl jeder in seinem Inventar hat, brauche ich ebenfalls nicht zu erklären. Auf ein besonderes Tool möchte ich aber doch kurz genauer eingehen: Die elektrische Zahnbürste, so einfach wie genial. Mit abgenutzten Bürstenköpfen einer akkubetriebene Zahnbürste lassen sich sehr genau Stämme und Äste reinigen sowie polieren. Der runde Kopf mit der sehr schmalen Antriebseinheit dahinter lässt ein Arbeiten auch an schwierigen Stellen zu.

Im Laufe meiner Zeit als Leiter vieler Workshops und Bonsai-Schulklassen habe ich schon viele innovative Ideen der Teilnehmer und Schüler gesehen.

Manche kompliziert und in meinen Augen wenig sinnvoll, die meisten aber sehr einfach umzusetzen und im hohen Maße praktisch. Diese Zeilen sollen Sie, liebe Leser, dazu anregen, auszuprobieren, Ideen zu entwickeln oder auch abzukupfern. In dieser Zeit, in der wir selbst unseren Urlaub gezwungenermaßen zu Hause und im eigenen Garten verbringen anstatt in die Ferne zu schweifen, liegt doch nichts näher, als kreativ zu sein und auch mal ein paar ungewöhnliche Dinge auszuprobieren.

Eigenes Werkzeug zu bauen oder Fundstücken aus Hobbykeller oder Haushalt eine unerwartete, neue Aufgabe zu geben, kann nicht nur den Geldbeutel schonen, sondern auch helfen, handwerkliche Probleme bei der Pflege und Gestaltung unserer Bonsai zu lösen. Staunende Blicke der Bonsai-Kollegen dürften Ihnen außerdem sicher sein, wenn sie irgendwann auch einmal mit so einer erstaunlichen Fundgrube wie dem Opa seine Kiste aufwarten können.

Glück auf!
Ihr Christian Przybylski

Christian Przybylski