Ein Web-Buch von Andy Rutledge zu den künstlerischen Grundlagen des Bonsai-Designs
Der Autor ist ein amerikanischer Designer und seine Webseite listet noch vieles Weitere auf, etwa Ehemann, Vater, Fahrradfahrer, Pianist, Grillmeister, Bonsai-Künstler und – ich möchte ergänzen – Spaßvogel. Er hat schon vor 10 Jahren einen aufschlussreichen, leicht lesbaren Text zu dem nicht gerade einfachen Thema der künstlerischen Grundbegriffe geschrieben und damit sowohl einen Anschluss an den Kunstdiskurs geschaffen als auch Begriffe auf Bonsai bezogen, die bei der Gestaltung aussagekräftiger Bonsai helfen können.
Das Web-Buch, in Englisch geschrieben, besteht aus Vorwort (von seinem Lehrer Nick Lenz), Einleitung, Verwahrungen (den Dingen, die das Buch nicht behandelt) und sieben inhaltlichen Kapiteln. Die Verwahrungen sind bemerkenswert, denn Rutledge möchte mit seinem Buch keine Regeln festschreiben, sondern erläutern, warum bestimmte Regeln, die es ja im Bonsai zuhauf gibt, in der Kommunikation zwischen Gestalter, Baum und Betrachter funktionieren.
Im ersten Kapitel sind dann auch gleich die neun Grundlagen für gutes, d.h. im kommunikativen Sinn erfolgreiches Design aufgezählt. Wenn (fast) alle erfüllt sind, ist ein Design auch künstlerisch. Dazu zählt etwa, dass ein Design evokativ sein soll. Den Begriff haben Sie vielleicht auch schon einige Male in BONSAI ART gelesen. Er bedeutet soviel wie anregend, hervorrufend, heraufbeschwörend. Eine Bonsai-Gestalt soll also Bilder und Gefühle wecken, die sowohl dramatisch als auch ruhig sein können. Ein weiterer Begriff ist provokativ. Rutledge meint damit eine Anregung des Betrachters zum Denken. Ein Bonsai-Design sollte also nicht zu gefällig sein. Noch sieben weitere Begriffe werden in diesem Kapitel kurz erläutert und diese Adjektive werden dann mittels der künstlerischen Konventionen (Linie, Form …) auf Bonsai bezogen. Anhand von Zeichnungen und Bildern wird erkennbar, was Formen oder Linien bedeuten und wie sie auf uns wirken. Dieses Kapitel lässt den Leser verstehen, was der Autor zu vermitteln sucht.
Die weiteren Kapitel widmen sich der Bonsai-Ästhetik, den Herausforderungen der Bonsaikunst, der Annäherung an das künstlerische Design, der Verfeinerungen und Ausrichtung auf den Betrachter, der Stimmigkeit des Designs und den Schlussfolgerungen. Alle diese Kapitel, die ich hier leider nicht differenzieren kann, sind gespickt mit Erläuterungen und Beispielen für die oft abstrakten Begriffe, um Sichtweisen und Erkenntnisse aus der Kunstanalyse auf Bonsai zu übertragen. Andy Rutledge erinnert mich an Peter Adams. Wie dieser versucht er, Dinge sichtbar zu machen. Es ist vielleicht nicht jedem bewusst, aber wir alle haben – nicht nur in Bezug auf Bonsai – von vielen Lehrern „sehen“ gelernt. Wir haben gelernt, z.B. die Natürlichkeit eines Bonsai zu empfinden, aber Rutledge geht weiter. Er hilft uns, diese Empfindungen in ein Erkennen zu überführen, gibt uns Begriffe, die uns in diesem Bereich sprachfähiger machen. Und er hilft uns, mit diesen Begriffen unsere Bonsai besser zu gestalten, weil wir verstehen, was noch nicht stimmt.
In der Redaktion haben wir den hier besprochenen Text diskutiert und uns entschlossen, ihn in BONSAI ART übersetzt zu veröffentlichen, da wir ihn für einen wichtigen Zugang zum Verständnis von Bonsai halten. Das Original ist zwar im Web zugänglich, aber leider sind die abstrakten Begriffe für viele dann doch im Englischen schwierig zu verstehen. Zum Redaktionsschluss stand die Antwort von Andy Rutledge noch aus, aber wir hoffen auf seine Zustimmung.
www.andyrutledge.com/book/
Englischsprachig
Eine Rezension von Michael Exner aus der BONSAI ART 119