„Bonsai, Geist und Materie“ von Salvatore Liporace
Nach einigen Büchern, die sich vor allem mit Kulturformen beschäftigten, die Bonsai verwandt sind, kann ich diesmal wieder eine echte Neuerscheinung vorstellen. Das Buch von Salvatore Liporace, eine Dokumentation seiner wichtigsten Werke, ist gerade erst erschienen. Der Untertitel klingt wie ein Koan, eine paradoxe Frage, die zur Meditation gegeben wird: „Welche Farbe hat der Wind?“ Wir werden nach solchen Worten keine technische Bonsaifibel erwarten, sondern ein Buch, das tiefe Einsichten in Geist und Materie des Bonsai vermittelt. Kann ein solch hoher Anspruch erfüllt werden?
Das Buch von Liporace ist edel ausgestattet (136 Seiten, Hardcover mit Schuber, Fadenbindung, durchgängig farbig, DIN A4). Die Texte sind nicht schwarz, sondern grau gedruckt, was eine dezente Zurückhaltung signalisiert: Die Bilder stehen im Vordergrund. Schon das Titelbild hat künstlerischen Anspruch. Der muskulöse Rücken eines Männer-körpers ist zu sehen, aus dessen Schulter-bereich ein Bonsai, quasi als Kopf, herauswächst: eine Illustration des Titels. Die Geschichte dieses Baumes werden wir im Inneren des Buches wiederfinden. Er scheint einer der Lieblingsbäume des Autors zu sein. Schlägt man das Buch auf, trifft man auf eine Widmung: „Dem Meister Masahiko Kimura, der Oase, die meinen Geist inspiriert hat.“ Liporace macht damit klar, und er tut es nicht nur an dieser Stelle, dass er sich an Kimura und dessen Werken orientiert. Damit sind die Eckpfeiler eines höchst ambitionierten Projektes gesetzt. An dieser Stelle möchte ich nicht weiter auf die zum Teil peinlich anmutenden Texte von Patrizia Cappellaro De Martino und Gianni Picella eingehen, die in einem weihevollen Ton aus Liporace eine auratische Figur zu machen versuchen.
An zwei Beispielen möchte ich zeigen, wie interessante Arbeiten durch den Ballast pseudophilosophischen Tiefsinns genau die Bedeutung verlieren, die sie zu erzeugen hoffen:
„Der große Alte“ ist eine Lärche, die Liporace ausgegraben und nach zwei Jahren gestaltet hat. Es ist der Baum, der den „Kopf“ des Bodybuilders auf dem Titel ersetzt. Er steht scheinbar für den Geist des Bonsai, während der „schöne“ Körper wohl für die Materie steht. In der Geschichte, die die Beschreibung der Gestaltung einleitet, geht es um einen alten Greis, dem durch liebevolle Pflege nun wieder Lebensmut gegeben wird und der so vor Verfall und Absterben bewahrt wurde. Das Motiv der Rettung, ein Motiv, das immer wieder das Sammeln von Bäumen in der Natur rechtfertigen soll, taucht hier auf. Warum ist diese Legitimation nötig? Scheinbar herrscht ein schlechtes Gewissen bei diesem Tun, und es gibt auch Gründe dafür, die in den Vorstellungen liegen, die man im Westen mit Bonsai verbindet: „Natur ist das, was der Mensch nicht bearbeitet!“, könnte man diese Position zusammenfassen. Als Menschen erheben wir uns über die Natur; bearbeiten wir sie, so ist das Kultur. Yamadori entreißt der Natur ein Stück und macht es zum Kulturgut. Da uns als Bonsaifreunden aber an der Harmonie mit der Natur gelegen ist, muss dieser aggressive Akt verleugnet werden. Zerstörerisch ist dann vor allem die Natur selbst, und wir können als Retter auftreten. Für Japaner besteht bzw. bestand dieser Widerspruch so nicht: Natur zerstört Kultur und umgekehrt, alles gehört zusammen. Kimura war einer der ersten, die Bonsai „unnatürlich“ gestalteten. Ihn scherte nicht, ob man einen Baum so in der Natur finden kann oder nicht. Warum auch, es ist ja Bonsai.
„Der große Alte“ steht nun in der Sammlung Liporace. Eine besondere Schale ist extra für ihn angefertigt worden. Diese neue Umwelt scheint mir für den Baum jedoch nicht angemessen. Scheinbar hat sich der Autor zu stark an genormten Vorstellungen über Halbkaskaden orientiert, statt ein Gefäß zu suchen, das wirklich dem Baum entspricht. Die Schale ist weich, rund, und es sieht so aus, als würde ein Teil der Wurzelbasis außerhalb liegen. Der Bonsai ist eckig, von Brüchen und eher geraden Linien gekennzeichnet, „männlich“ nennen das die Japaner. Mit einer passenden Schale könnte dieser Bonsai etwas dazu gewinnen.
Als zweites Beispiel möchte ich einen Baum diskutieren, den sich Kimura bei einem Besuch bei Liporace für eine Gestaltung wünschte. Warum er ihm diese Möglichkeit nicht gab, lässt der Autor offen, erwähnt aber eine Skizze, die Kimura angefertigt hat. Im Buch ist eine Skizze abgedruckt, die von Kimura stammen könnte und durch die sich der Autor in seinen eigenen Vorstellungen bestätigt sieht. Den Bonsai, den Liporace dann jedoch gestaltet, hat kaum etwas mit der Skizze, nehmen wir an, sie stammt tatsächlich von Kimura, zu tun. Weder die Stammneigung noch die Proportionen der Krone, noch die Schale entsprechen auch nur annähernd dem Entwurf des vom Autor bewunderten Meisters. Die Kiefer sieht eher aus wie eine Kobra-Schlange, das ist auch der Name, den sie von ihrem Besitzer bekommen hat. Der Name eines Bonsai greift in Japan jedoch meist nicht die ganze Form auf, sondern nimmt ein zentrales Detail (z. B. Rinden-struktur oder Totholzbereiche) auf und sucht eine Analogie. Dabei sind Tiere meist in ihrem mythischen Symbolgehalt angesprochen. Es zeigt sich auch in diesem Beispiel, wie Missverständnisse leicht zu tiefen Einsichten überhöht werden können.
Diese beiden Beispiele sollen jedoch nicht für das ganze Buch stehen. Aus den Texten, die die Bilder begleiten, kann der aufmerksame Leser einiges Wissenswertes ziehen. Auch die Dokumentation der Gestaltungen ist zum Teil recht eindrucksvoll und überraschend. Leider basieren die Fotos wohl auf Kleinbildformat, was bei den doch starken Vergrößerungen zu Qualitätseinbußen führt.
Alles in allem ist diese Buch für diejenigen zu empfehlen, die die Entwicklung der europäischen Bonsaigestaltung kritisch beobachten wollen. Die Antwort der Frage nach der Farbe des Windes findet sich auf der Rückseite: Es sei die Farbe der Freiheit. Ob in diesem Buch vor allem mit großen Worten viel Wind gemacht wird oder ob damit tatsächlich neue Freiheitsgrade aufgezeigt werden, muss schlussendlich jeder Leser selbst entscheiden.